Archäologie | Literatur | Psychologie |
Astronomie | Naturwissenschaft | Sprachen |
Geschichte | Pädagogik | Theologie |
Kunst | Philosophie |
In jedem Märchen
fließen unterschiedliche Dimensionen des Menschlichen
zusammen, die für sich alleine stehend eine zu große
Herausforderung stellen. Was sich daher nicht empfiehlt, ist eine
Analyse von Märchen mit dem Kind zusammen. Dies gilt besonders
für die tradierten Volksmärchen, die die
Gebrüder Grimm zusammengetragen haben. Im Unterschied zu
den Kunstmärchen im Stil von Hans
Christian Andersen sind sie ursprünglich
nicht für Kinder entstanden. Der Psychologe und
Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, Autor des Bestsellers "Kinder
brauchen Märchen", erklärt die
Beliebtheit der Märchen bei den Kindern eben mit
dieser Ferne des "pädagogisch Wertvollen". Beim
Märchen Dornröschen spielt das Thema der
erwachenden Sexualität die wichtigste Rolle.
Dornröschen fällt mit 15 Jahren in einen
Tiefschlaf, der sich mit der Zeit auf den gesammten Hofstaat
ausbreitet. Erst der tapfere Mut eines Prinzen führt sie in
die Welt der Erwachsenen hinüber.
Vor Zeiten war ein König und
eine Königin, die sprachen jeden Tag: "Ach, wenn wir doch ein
Kind hätten!" und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als
die Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch aus
dem
Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: "Dein Wunsch wird
erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter
zur Welt bringen."
Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin
gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der
König vor Freude sich nicht zu lassen wusste und ein
großes
Fest anstellte. Er lud nicht bloß seine Verwandten, Freunde
und
Bekannte, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind
hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem
Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von
welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben.
Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war,
beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine
mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum,
und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe
ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die
dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass
sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüssen oder nur
anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: "Die Königstochter soll
sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und
tot hinfallen." Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich
um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die
zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte,
und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn
mildern konnte, so sagte sie: "Es soll aber kein Tod sein, sondern ein
hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die
Königstochter fällt."
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern
bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, dass alle Spindeln
im
ganzen Königreiche vebrannt werden. An dem Mädchen
aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich
erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich
und verständig, dass es jedermann, er es ansah, lieb haben
musste. Es geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn
Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu
Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloss
zurückblieb. Da ging es allerorten herum, besah Stuben und
Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm.
Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen
Türe. In dem Schloss steckte ein verrosteter
Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe auf,
und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau
mit einer
Spindel und spann emsig ihren Flachs.
"Guten Tag, du altes Mütterchen", sprach die
Königstochter, "was machst du da?" "Ich spinne", sagte die
Alte und nickte mit dem Kopf. "Was ist das für ein Ding, das
so lustig herumspringt?" sprach das Mädchen, nahm die Spindel
und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel
angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und
sie stach sich damit in den Finger. In dem Augenblick aber, wo sie den
Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder das da stand, und lag in
einem tiefen Schlaf.
Und dieser Schlaf verbreite sich über das ganze Schloss: der
König und die Königin, die eben heimgekommen waren
und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen und der ganze
Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im
Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer,
das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten
hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den
Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren
ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legt
sich, und
auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein
Blättchen mehr. Rings um das Schloss aber begann eine
Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich
das ganze Schloss umzog und darüber hinauswuchs, dass gar
nichts davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf den Dach.
Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden
Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt,
also dass von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und
durch die Hecke in das Schloss dringen wollten. Es war ihnen aber nicht
möglich, denn die Dornen, als hätten sie
Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge
blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und
starben eines jämmerlichen Todes.
Nach langen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das
Land, und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke
erzählte, es sollte ein Schloss dahinter stehen, in welchem
eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen
genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr der
König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er
wusste auch von seinem Grossvater, dass schon viele
Königssöhne gekommen wären und versucht
hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie
wären darin hängengeblieben und eines traurigen Todes
gestorben. Da sprach der Jüngling: "Ich fürchte mich
nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen
sehen." Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er
hörte nicht auf seine Worte. Nun waren aber gerade die hundert
Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen
wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der
Dornenhecke näherte, waren es lauter große
schöne
Blumen, die taten sich von selbst auseinander und liessen ihn
unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder
als Hecke zusammen. Im Schlosshof sah er die Pferde und scheckigen
Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dach saßen die Tauben
und
hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und
als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der
Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken,
und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft
werden.
Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und
schlafen, und oben bei dem Throne lag der König und die
Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so still, dass
einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm
und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher
Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, dass
er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab
ihm einen Kuss.
Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug
Dornröschen die Augen auf, erwachte, und blickte ihn ganz
freundlich an. Da gingen sie zusammen herab, und der König
erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat, und sahen
einander mit grossen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und
rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten; die
Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel
hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den
Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob
sich, flackerte und kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu
brutzeln; und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie;
und die Magd rupfte das Huhn fertig.
Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem
Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten
vergnügt bis an ihr Ende.