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Als die Bewegung der 60er-Jahre ihr
Ziel
erreicht, und den Marsch durch die Institutionen vollendet, ist die
Welt noch voller Ideale. Die linke Professorenschaft ruft zur Revolte
gegen
das bürgerliche Establishment mit all seinen
Verknöcherungen.
Märchen gelten als überholt, als
reaktionärer Ballast der
bürgerlichen Gesellschaft. Doch bereits in den 70ern
schockiert der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim die interessierte
Öffentlichkeit mit einem für damalige
Verhältnisse
grausigem Bekenntnis:
"Kinder brauchen Märchen". Das
gleichnamige Buch propagiert das Märchen als
Medium, das
dem Kind eine
Möglichkeit bietet, seine inneren Konflikte, die es in den
Phasen
der
seelischen und geistigen Entwicklung unweigerlich erleben muss, zu
erfassen und in der
Fantasie zu lösen. "Es braucht Anregungen, wie es in
seinem Inneren und danach auch in seinem Leben Ordnung schaffen kann"
schreibt der Psychologe Bettelheim. Das Märchen
würde
ethisches Verhalten vorbereiten, das Gute vor dem Horizont des Kindes
sichtbar werden lassen. Was war passiert? Die antiquierte Welt aus
Prinzen und Prinzessinnen, aus Untat und Strafe, hatte wieder in der
Pädagogik Platz eingenommen.
Der Mensch, der Homo Faber, muss
überall
etwas leisten. Ständig ist er in Bewegung, unter Druck, im
Stress. Er hat keine Zeit, sich um Grundsätzliches Gedanken zu
machen. Diese Eindimensionalität des Ökonomischen ist
im Märchen dahin. Trotzdem ist die urdeutsche
Sekundärtugend Fleiß ein nicht zu
unterschätzendes Thema in einer Reihe von Märchen aus
der Sammlung der Gebrüder Grimm. Auch die Geschichte
der Frau Holle dreht sich um das Thema der Arbeitsmoral.
Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber. Die andere mußte alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: »Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.«
Da
ging das
Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte
nicht, was es anfangen sollte;
und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die
Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder
zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die
Sonne schien
und tausende Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam
zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief:
»Ach, zieh
mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon
längst aus
gebacken.« Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber
alles
nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der
hing voll Äpfel, und rief ihm zu: »Ach,
schüttel mich, schüttel mich,
wir Äpfel sind alle miteinander reif.« Da
schüttelte es den Baum, daß
die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte,
bis keiner mehr
oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es
wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine
alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward
ihm angst, und es
wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: »Was
fürchtest du
dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause
ordentlich tun willst, so soll dir's gut gehn. Du mußt nur
achtgeben,
daß du mein Bett gut machst und es fleißig
aufschüttelst, daß die
Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau
Holle.«
Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das
Mädchen ein Herz,
willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles
nach ihrer Zufriedenheit und schüttelte ihr das Bett immer
gewaltig,
auf daß die Federn wie Schneeflocken umherflogen;
dafür hatte es auch
ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage
Gesottenes und
Gebratenes.
Nun war es eine Zeitlang bei der Frau Holle, da ward es
traurig und wußte anfangs selbst nicht, was ihm fehlte,
endlich merkte
es, daß es Heimweh war; ob es ihm hier gleich vieltausendmal
besser
ging als zu Haus, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte
es zu ihr: »Ich habe den Jammer nach Haus kriegt, und wenn es
mir auch
noch so gut hier unten geht, so kann ich doch nicht länger
bleiben, ich
muß wieder hinauf zu den Meinigen.« Die Frau Holle
sagte: »Es gefällt
mir, daß du wieder nach Haus verlangst, und weil du mir so
treu gedient
hast, so will ich dich selbst wieder hinaufbringen.« Sie nahm
es darauf
bei der Hand und führte es vor ein großes Tor. Das
Tor ward aufgetan,
und wie das Mädchen gerade darunterstand, fiel ein gewaltiger
Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so
daß es über und über
davon bedeckt war. »Das sollst du haben, weil du so
fleißig gewesen
bist«, sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule
wieder, die ihm
in den Brunnen gefallen war. Darauf ward das Tor verschlossen, und das
Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner
Mutter
Haus; und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen
und rief:
»Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.«
Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt
ankam, ward es von ihr und der Schwester gut aufgenommen.
Das
Mädchen erzählte alles, was ihm begegnet war, und als
die Mutter hörte,
wie es zu dem großen Reichtum gekommen war, wollte sie der
andern,
häßlichen und faulen Tochter gerne dasselbe
Glück verschaffen. Sie
mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre
Spule
blutig ward, stach sie sich in die Finger und stieß sich die
Hand in
die Dornhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber
hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und ging
auf
demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das
Brot wieder: »Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst
verbrenn ich,
ich bin schon längst ausgebacken. « Die Faule aber
antwortete: »Da hätt
ich Lust, mich schmutzig zu machen«, und ging fort. Bald kam
sie zu dem
Apfelbaum, der rief: »Ach, schüttel mich,
schüttel mich, wir Äpfel sind
alle miteinander reif. « Sie antwortete aber: »Du
kommst mir recht, es
könnte mir einer auf den Kopf fallen«, und ging
damit weiter. Als sie
vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil
sie von
ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und
verdingte sich gleich zu
ihr. Am ersten Tag tat sie sich Gewalt an, war fleißig und
folgte der
Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele
Gold, das sie ihr schenken würde; am zweiten Tag aber fing sie
schon an
zu faulenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht
aufstehen. Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sich's
gebührte, und schüttelte es nicht, daß die
Federn aufflogen. Das ward
die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die
Faule war
das wohl zufrieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen;
die Frau
Holle führte sie auch zu dem Tor, als sie aber darunterstand,
ward
statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech
ausgeschüttet. »Das ist
zur Belohnung deiner Dienste«, sagte die Frau Holle und
schloß das Tor
zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der
Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief:
» Kikeriki, unsere schmutzige Jungfrau ist wieder
hie.«
Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, solange sie
lebte, nicht abgehen.